17.07.2024

Liegt die Zukunft der Zeitzeugenschaft im Digitalen?

Podiumsdiskussion am Zentrum Erinnerungskultur der Universität Regensburg zu den Herausforderungen für historisches Erinnern im digitalen Zeitalter.
Podiumsdiskussion des Zentrums Erinnerungskultur an der Universität Regensburg mit (v. l.) Prof. Dr. Juliane Tomann, Prof. Dr. Wulf Kansteiner, Prof. Dr. Anja Ballis und Prof. Dr. Jörg Skriebeleit. © Anna-Elena Schüler

Nur noch wenige, hochbetagte Überlebende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft können heute von ihren Erfahrungen berichten. Wie lässt sich die Lücke, die Zeitzeug*innen nach ihrem Tod hinterlassen, füllen? Können volumetrische Projektionen oder Virtual-Reality-Anwendungen, die den direkten Kontakt mit Überlebenden simulieren, die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ermöglichen? Darüber diskutierten am 20. Juni an der Universität Regensburg die Deutschdidaktikerin Professorin Dr. Anja Ballis (LMU München), der Historiker Professor Dr. Wulf Kansteiner (Aarhus University, Dänemark) und Professor Dr. Jörg Skriebeleit, Direktor des Zentrums Erinnerungskultur an der Universität Regensburg (UR) und Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, die mit der UR und ihren Wissenschaftler*innen vielfältig zusammenwirkt.

Die Moderatorin der Podiumsdiskussion im H24 des Vielberth-Gebäudes, UR-Juniorprofessorin Dr. Juliane Tomann (Public History), erinnerte zu Beginn der Veranstaltung daran, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft zentral ist. Essentiell für die Geschichtsvermittlung war bislang der direkte Austausch zwischen Überlebenden und den nachgeborenen Generationen. Doch Zeitzeug*innen sterben. Wie mit ihren Zeugnissen künftig umgehen? Können bestehende Formate ins Digitale überführt werden? Wie lässt sich ein Übergang vom Analogen ins Digitale gestalten? Braucht es gar eine neue Erinnerungskultur?

Wie gehen wir zukünftig mit Zeitzeugnissen um?

Wie gibt man den Zeitzeug*innen auch künftig eine Stimme? Wulf Kansteiner, der viele Jahre an US-amerikanischen Hochschulen tätig war und innerhalb der Geschichtswissenschaften die Subdisziplin Memory Studies vertritt, erinnert zu Beginn der Diskussion an die große Herausforderung, Interviews so zu führen, dass sie als Quelle brauchbar sind. Zudem stelle sich die Frage, wie man grundsätzlich mit den Aufzeichnungen umgehe. Eine digitale Komponente finde sich zwischenzeitlich in allen Medien, sagt Kansteiner, die bei der Arbeit mit den Quellen stets berücksichtigt werden müsste. Aktuell befinde man sich an einem Wendepunkt: Fragen zur sozialen Konstruktion von Erinnerung würden aufgeworfen, „die wir so vor einigen Jahren nicht gehabt hätten“. Dass viele Fragen offen seien – darüber herrscht Einigkeit.

Bei den (möglichen) Antworten wird es schon schwieriger. Juliane Tomann lädt das Podium eingangs ein, von Projekten zu berichten, die analoge in digitale Zeitzeugenschaft überführen. Didaktikerin Anja Ballis setzt auf die vielfältigen Möglichkeiten von Virtual Reality (VR). Sie entwickelt mit ihrem interdisziplinären Team volumetrische Projekte, um Chancen und Grenzen von interaktiven 3-D-Zeugnissen für die Vermittlungs- und Bildungsarbeit auszuloten. Im Projekt „LediZ – Lernen mit digitalen Zeugnissen“ seien zwei Holocaustüberlebenden jeweils ca. 1000 Fragen gestellt worden. Bei der Beantwortung dieser Fragen seien die Zeitzeug*innen von zwei Spezialkameras stereoskopisch gefilmt worden. Das Rechenzentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften speichere die so gewonnenen Daten, erzählt Ballis. Die daraus entstehenden Zeitzeug*innen-Hologramme würden mit einer Spracherkennungssoftware trainiert, um die Interaktion mit dem digitalen Zeugnis zu ermöglichen. Werde das Hologramm der*des Zeitzeug*in von Usern befragt, erfolge ein Abgleich mit der vorhandenen Datenbasis. Sei eine passende Antwort vorhanden, würde sie als Video ausgespielt.

Quellen und Medien

Jörg Skriebeleit, Historiker und Gedenkstättenleiter, der die aktuell in der Universitätsbibliothek Regensburg gezeigte Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ mitkuratierte, sieht in solch digitalen Projekten große Herausforderungen für die Geschichtsvermittlung. Verknüpfung von Digitalität und Zeitzeugenschaft – in seinen Augen grundsätzlich ja, aber immer in einem reflektierten Kontext. Skriebeleit will keine „pädagogische Vernutzung“, ist irritiert von so manchen Anfragen an das Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg zur Nutzung von Interviews mit Zeitzeug*innen für digitale (Schul-)Projekte. Es gebe problematische Erwartungshaltungen, berichtet Skriebeleit. Sei dies der Fall, lehne das Flossenbürger Archiv Nutzungsanfragen ab: „Für uns ist es eine sehr grundlegende überdisziplinäre Frage, wie wir mit Zeugnissen, die Menschen uns zu einem Zeitpunkt x gegeben haben, umgehen“. Eindringlich fordert Skriebeleit, sich mit dem archivierten Material klug und ethisch legitim auseinanderzusetzen, künstliche Intelligenz aber auf Recherchezwecke zu reduzieren.

(v. l.) Prof. Dr. Wulf Kansteiner, Prof. Dr. Anja Ballis und Prof. Dr. Jörg Skriebeleit. © Anna-Elena Schüler

Aus der Sicht von Anja Ballis hingegen ist es nicht mehr möglich, digitale Erinnerungsformate durch Institutionen, etwa Schulen, zu „zähmen“. Aktuell lebe man bereits in der Postdigitalität, daran lasse sich nicht mehr rütteln. Sie untersuche u. a. toxische Sprache im Internet und arbeite daran, mit digitalen Ansätzen beispielsweise Antisemitismus im Netz zu begegnen. VR sei dabei „ein scharfes Schwert“, biete die Möglichkeit, Lehrkräfte und Schüler*innen bei der Aufklärungsarbeit mitzunehmen und zugleich mehr über Wirkungsweisen von Algorithmen zu verstehen. So lasse sich auch „in radikale Bereiche“ vordringen.

Rettung? Recht?

Kansteiner vermutet, dass die Versuche, die Zeitzeugenschaft der NS-Zeit auf digitalem Weg in zukünftige Generationen zu retten, funktionieren könnten. Doch gebe es auch „digitale Welten, in denen genau gegenteilige Momente verfolgt werden. Wir haben versucht, im Sinne von Humanisierung zu arbeiten, zugleich passiert Brutalisierung“. Doch werde zunehmend versucht, klare Grenzen zu setzen – der Wissenschaftler erinnert an das EU-Gesetz über digitale Dienste, das Web-Nutzer*innen schützen und sichere digitale Räume schaffen soll.
Ballis bezweifelt, dass ein solcher „Rettungsaspekt“ in den heutigen medialen Räumen tatsächlich noch zentral sei. Vielmehr gehe es darum, die Geschichten der Überlebenden in anderen Formaten weiterzuerzählen. Sie berichtet zudem von Überlebenden, die ihre Geschichte in medialen Formaten, kuratiert von Familienmitgliedern, selbstbestimmt erzählten. „Stellt das nicht auch uns in Frage?“ fragt die Wissenschaftlerin, die fordert, „dort hinzugehen, wo die jungen Menschen sind“.

Skriebeleit hingegen pocht darauf, dass digitale Informationen mit Personenbezug nicht dauerhaft im Netz zur Verfügung stehen dürfen, und äußert große Bedenken, dass the right to be forgotten nicht länger respektiert werde. Er berichtet von Zeitzeug*innen, die die Nutzung ihrer Interviews wieder zurückgezogen hätten, weil sie den vielfältigen digitalen Verwertungsansätzen skeptisch gegenüberständen.
Ballis entgegnet, dass riesige Interview-Sammlungen, etwa der USC Shoa Foundation, heute digital verfügbar und neue Dokumente auf Grundlage frei verfügbarer Quellen einfach zu konstruieren seien. Was das eine Archiv nicht bereitstelle, hole man sich beim anderen – wer bestimmte Absichten verfolge, werde in jedem Fall fündig. Skriebeleit lehnt diese pragmatische Sichtweise „gerade im wissenschaftlichen Kontext“ ab. Man dürfe die wissenschaftlichen und ethischen Standards im digitalen Raum nicht fallen lassen, die man im analogen Raum garantiere – das ist die tiefe Überzeugung des Historikers.

Deutlich macht die Diskussion, dass es auch in diesem Bereich keine schnellen und einfachen Lösungen für die Dilemmata digitaler Entwicklungen gibt. Einig ist man sich dahingehend, dass Zuhören immer und überall zu den wichtigsten Tugenden gehört. Dass Diskriminierung niemandem gleichgültig sein darf. Aber deutlich wird auch, dass der Blick auf Zeitzeugenschaft selbst sich in einem tiefgreifenden Umbruch befindet – und mit dem Blick verändern sich die Formen, Bedingungen, Möglichkeiten und Wirkungen historischen Erinnerns. Es gab viele nachdenkliche Gesichter an diesem Abend.

Der Text des Artikels erschien am 28.06.2024 auf der Homepage der UR. Wir danken der Verfasserin, Dr. Tanja Wagensohn, für die Erlaubnis, den Text auf der Website des Zentrums Erinnerungskultur zu verwenden.