Der „Kolonialwarenhandlung“-Schriftzug an der Hausfassade, der Schokoladen-Botschafter in putzigen Pluderhosen: Oft nostalgisch interpretiert sind sie Schatten kolonialer Vergangenheit, die bis heute als Bilder oder Begriffe im Alltag herumspuken und historische und gegenwärtige Präsenz post-/kolonialer Realitäten sichtbar machen. Vom 24. bis 27. Juli 2024 setzten sich Early-Career-Forschende mit der allenfalls vermeintlich banalen Alltäglichkeit kolonialistischer Weltbilder auseinander und diskutierten, wie sich diese reflektier- und verhandelbar machen lassen. Denn Geschichte und Gegenwart sind verschränkt, sie lassen sich nicht unabhängig voneinander lesen.
Dr. Philipp Bernhard und Dr. Regina Schuhbauer vom Zentrum Erinnerungskultur hatten die viertägige Tagung „Postkoloniale Perspektiven auf Erinnerungskultur“ initiiert.
Am 25. Juli setzten sich Studierende, Doktorand*innen, Postdocs und Professor*innen im Rahmen von zwei Workshops, einem Stadtrundgang und einem Vortrag über May Ayim mit „Postkolonialen Perspektiven auf Erinnerungskultur“ auseinander.
Sie brachten dabei verschiedene fachliche Perspektiven ein: Die Teilnehmenden waren interdisziplinäre Forschende aus verschiedenen Städten und Ländern, aus (Landes-)Geschichte, Literaturwissenschaften und Area Studies, aus Citizen-Science-Projekten und Geschichtswerkstätten. Am 26. Juli nutzten die Wissenschaftler*innen am dritten Konferenztag im Stadtarchiv Regensburg die Möglichkeit, Bestände mit Bezügen zum deutschen Kolonialismus zu sichten. Am 27. Juli setzten sich die Wissenschaftler*innen abschließend noch mit einem „unerwarteten Ort“, wie Philipp Bernhard ihn charakterisierte, auseinander: Dem „Afrikamuseum“ der Benediktinerabtei Schweiklberg im niederbayerischen Vilshofen an der Donau.
Die Tagung begann bereits am 24. Juli mit einem Abendvortrag von Dr. Ali Aberkane, Germanist der Universität Algier 2 und Gastwissenschaftler am ZE, der eine postkoloniale Lesart des Romans „Topographie idéale pour une agression caracterisée“ (dt. Topographie, Verlag Donata Kinzelbach, 1993) des algerischen Schriftstellers Rachid Boudjedra in der Stadtbücherei Regensburg zur Diskussion stellte; sein Vortrag war zugleich Teil der ZE-Veranstaltungsreihe „Debatten & Positionen zur Erinnerungskultur“.
In dem Roman aus dem Jahr 1975 von bedrückender Aktualität irrt ein algerischer Einwanderer nach seiner Ankunft in Paris durch das Labyrinth der Metrolinien.
Mit einem alten Koffer voller Habseligkeiten und Erinnerungen umherziehend, ist der namenlose Protagonist auf der Suche nach einem neuen, „besseren“ Leben, fällt aber bereits am Tag seiner Ankunft einem rassistischen Angriff zum Opfer. Schonungslos arbeitet Rachid Boudjedra mit seinen Sprachbildern der Métro-Odyssee die kolonialen Kontinuitäten der französischen Gesellschaft heraus; sei es durch die Exotisierung und Erotisierung kolonial-konnotierter Orte und Waren auf den Werbeplakaten der Metrostationen; sei es durch die Verdinglichung des Migrantenproletariats, das die Pariser U-Bahn sauber hält; sei es durch den xenophoben rassistischen Sprachgebrauch des die Mordermittlungen leitenden Kommissars.
Die von Dr. Ali Aberkane und Dr. Regina Schuhbauer geleitete Tagungssektion am Tag darauf griff die postkoloniale Lesart des Romans von Boudjedra auf. So wurden einzelne Hypothesen – z.B. die Sprachlosigkeit des namenlosen Protagonisten als Ausdruck einer kollektiven Amnesie vor dem Hintergrund eines durch den Kolonisationsprozess abgerissenen kulturellen Gedächtnisses – vertieft und das Potenzial des Romans als Gedächtnisträger einer gesellschaftlichen Erinnerungskultur diskutiert.
Geschichtsvermittlung postkolonial
Das koloniale Erbe „vor Ort“ in Regensburg und Bayern analysierten am zweiten Konferenztag in ihrer Sektion der Globalhistoriker Dr. Michael Rösser von der Universität Bamberg und Dr. Philipp Bernhard, wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZE und Gymnasiallehrer für Geschichte, Englisch und Ethik. Bernhard, der zu Beginn postkoloniale Initiativen aus Augsburg, Bayreuth und München vorstellte, hat selbst maßgeblich an der Initiative „Augsburg Postkolonial. Decolonize Yourself!“ mitgewirkt und sensibilisierte dort bei Stadtrundgängen u. a. dafür, dass Fugger und Welser als global agierende Handelshäuser und die Welser mit der Kolonisierung Venezuelas 1528 auch den Beginn deutscher Kolonialgeschichte schrieben. Augsburg war wie London, Paris oder Venedig im 16. Jahrhundert Metropole und Umschlagplatz zwischen Europa, Afrika und der „Neuen Welt“. Wer im Zeitalter der beginnenden Globalisierung Handel trieb, profitierte – direkt oder indirekt – von Sklaverei und Ausbeutung.
Wie möchte, wie muss man mit dieser kolonialen Vergangenheit umgehen? Was tun mit entsprechenden Straßennamen, mit Denkmälern, mit Plaketten, die als Erinnerungsorte das kollektive Gedächtnis prägen? Muss man ein „Kolumbusjahr“ unreflektiert feiern? Mit dem „Eroberer“ begann die spanische Kolonialzeit auf dem amerikanischen Kontinent – für die indigene Bevölkerung der Beginn von Mord und Unterdrückung. Es brauche einen Perspektivwechsel und die Etablierung eines transkulturellen Dialogs, darüber waren sich die Konferenzteilnehmer*innen einig.
Konsens bestand auch dahingehend, dass die eurozentristischen Narrative in Kultur und Gesellschaft zunehmend aufzubrechen seien. Aus Sicht der Referenten braucht es nicht zuletzt Impulse für den Schulunterricht. Bernhard analysiert dies u. a. in seiner Monografie „Geschichtsdidaktik postkolonial. Eine geschichtsdidaktische Vermessung postkolonialer Theorie“ auf über 600 Seiten in beeindruckender Weise.
„Glokalisierung“
(Wiederkehrende) Debatten um belastete Namen, Begriffe, Symbole, um „koloniale Kontinuitäten“ kennt auch Regensburg – die „Drei-Mohren-Straße“ gehört zu den prominenteren Beispielen. Michael Rösser, selbst Regensburger, führte seine Kolleg*innen im Tagungskontext durch die Stadt und machte auf ihre postkolonialen Spuren aufmerksam. Deutlich wurde: Städte, Regionen, Länder – sie wirken in Bezügen mit anderen Orten bzw. Räumen, sie sind Produkt sozialer Beziehungen, kultureller Bedeutung und emotionaler Identifikation.
May Ayim – Absolventin der Universität Regensburg
Über die Quellen zu May Ayim im Universitätsarchiv sprachen die Forschenden mit dem Universitätsarchivar Dr. Andreas Becker am Nachmittag. May Ayim studierte von 1980-1987 an der Universität Regensburg Lehramt Grundschule und Pädagogik damals noch unter dem Namen Brigitte Opitz, später May Opitz. Entgegen anderslautender Behauptungen schloss sie ihr Studium an der Universität Regensburg mit einer Diplomarbeit mit dem Thema „Afro-Deutsche. Ihre Kultur und Sozialisationsgeschichte auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen“, die mit der Note „sehr gut“ bewertet wurde, ab, wie das Prüfungszeugnis und das Diplom in den Beständen des Universitätsarchives belegen. Dass Ayims früheste überlieferte Texte zum Themenfeld Rassismus, wie beispielsweise ihre Diplomarbeit, die den wissenschaftlichen Rahmen für die Anthologie „Farbe bekennen“ bildete, nur kurz nach ihrem Wegzug aus Regensburg Mitte der 1980er-Jahre entstanden, lege nahe, dass ihre Studienjahre in Regensburg sie in Bezug auf die Thematik stark geprägt haben, so Becker.
Was für eine Gesellschaft wollen wir sein?
Im Plenum trugen die Workshop-Teilnehmer*innen ihre Erkenntnisse zusammen. Dazu gehörte, dass partizipatorische Ansätze wünschenswert seien. Aber sie sind offensichtlich höchst komplex – und kompliziert dazu. Aus aktivistischer Perspektive gestalte sich manches noch einmal anders, sagte eine Tagungsteilnehmerin, die Interessierte durch das koloniale Bayreuth führt. Gerechtigkeit werde nicht automatisch durch das Ändern eines Straßennamens hergestellt. Es brauche Antworten auf die Frage: Was wollen wir für eine Gesellschaft sein, worauf können wir uns einigen?
Bei dem Text handelt es sich um einen an einigen Stellen adaptierten Text, der am 28.06.2024 auf der Homepage der UR erschienen ist. Wir danken der Verfasserin, Dr. Tanja Wagensohn, für die Erlaubnis, den Text auf der Website des Zentrums Erinnerungskultur zu verwenden.
Ermöglicht wurde die Tagung durch die Förderung der Regensburger Universitätsstiftung Hans Vielberth. Der postkoloniale Stadtrundgang fand in Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Bildungswerk Regensburg e.V. statt sowie der Fachschaft Geschichte, einem Seminar aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Regensburg, dem Jugendbeirat Regensburg, der Partnerschaft für Demokratie Regensburg und wird (voraussichtlich) gefördert durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Einen weiteren Artikel zur Tagung finden Sie auf H/Soz/Kult.