22.05.2024

Täterwissen

NS-Belastete als Zeitzeugen der historischen Forschung in der frühen Bundesrepublik

Die frühe Aufarbeitung der Jahre 1933 bis 1945 unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges stand vor dem Problem, dass zahlreiche Aktenbestände aus der NS-Zeit für die westdeutsche Forschung zunächst nicht zur Verfügung standen. Viele Historiker waren daher darauf angewiesen, durch Interviews mit ehemaligen NS-Funktionären Einblick in die inneren Organisationsabläufe des Regimes zu erlangen.

Am Beispiel der Arbeiten am Münchner Institut für Zeitgeschichte in den 1950er Jahren zeigte der Historiker apl. Prof. Dr. Klaus Große Kracht (Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg/Universität Münster) in seinem Vortrag, wie die Art der Interviewführung und Materialsammlung Eingang in die Forschungsarbeit und in Veröffentlichungen gefunden hat.

Im Bonhoeffersaal des Evangelischen Bildungswerkes Regensburg erläuterte Prof. Große Kracht zunächst die Ansätze und Grenzen der Befragungspraxis „spontane Kontaktaufnahme und freie Gesprächsführung“ am 1949 gerade gegründeten Institut, ehe er sich der Frage nach Rekonstruktion und Apologie des Zeitzeugenwissens in den frühen Publikationen des Münchner Instituts widmete. Am Beispiel der Veröffentlichungen der Historiker Anton Hoch, Hermann Foertsch, Georg Franz(-Willing) und Hans Buchheim diskutierte Prof. Große Kracht, wie die damalige geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung zwischen persönlicher Nähe und kritischer Distanz changierte: einerseits brachte die Befragung der Zeitzeugen durchaus Erkenntnisgewinn; andererseits barg sie auch die Gefahr der Perspektivübernahme der Befragten trotz oder gerade wegen des Gestus der ‚Nüchternheit‘ der Historiker, der persönliche Schuldanteile ausblendete.

Der Historiker war nach Auffassung der Wissenschaftler des frühen IfZ „nicht dazu da, sich mit dem besonderen Fall des Angeklagten zu beschäftigen. Die Umstände des Einzelfalles zu ermitteln und ein Urteil über Schuld und Unschuld zu fällen, ist ausschließlich dem Gericht vorbehalten“ (Buchheim, Hans/Broszat, Martin/Jacobson, Hans-Adolf/Krausnick, Helmut, Anatomie des NS-Staates, 1965, Vorwort). Dass vor dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses die Verfolgten und Überlebenden des Holocaust in den Anfangsjahren der Bundesrepublik nicht Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses waren, verwundert nicht, gab jedoch im Publikum im Anschluss an den Vortrag Anlass zur regen Diskussion über die – wie Prof. Große Kracht abschließend resümierte – „Untiefen der Zeitzeugenbefragung in der westdeutschen Zeitgeschichtsforschung der 1950er Jahre“.

© Anna-Elena Schüler

Die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ hinterfragt die „Gemachtheit“ der Interviews mit Zeitzeug*innen und ihre gesellschaftliche Rolle seit 1945. Sie gibt Einblicke in die Videosammlung der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, in Interviews, die bislang nie gezeigt wurden. Hinweis: Die Ausstellung wird bis zum 24.08. verlängert!