Auch über 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs existieren Leerstellen in der deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus. Das Leid zehntausender Männer, Frauen und Jugendlicher, die als „Asoziale” und „Berufsverbrecher” verfolgt wurden, rückt erst allmählich in das öffentliche Bewusstsein. Sie wurden in Konzentrationslager gesperrt, in Heimen und psychiatrischen Anstalten festgehalten, viele von ihnen zwangssterilisiert. Erst im Februar 2020 erkennt der Deutsche Bundestag sie als Opfer des Nationalsozialismus an. Ähnlich verhält es sich mit den Opfern der NS-Krankenmorde. Zwischen 1933 und 1945 werden mehrere hunderttausende Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen von Ärzten, Pflegekräften und Verwaltungsbeamten als „unwertes Leben” eingestuft und systematisch ermordet. Bis heute spielt ihr Schicksal kaum eine Rolle in der deutschen Öffentlichkeit. Nach wie vor sind sie offiziell nicht als NS-Opfergruppe offiziell anerkannt.
Die heutige Nichtbeachtung dieser Menschen ist Teil einer langen Geschichte von Ausgrenzung und Diskriminierung. Bereits vor der nationalsozialistischen Verfolgung werden diese Personengruppen häufig an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Diese Kontinuitäten der Ausgrenzung sind Ausgangspunkt einer Veranstaltungsreihe, die das Zentrum Erinnerungskultur der Universität Regensburg und die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg gemeinsam organisieren. Ab Herbst 2022 nähern sich Lesungen, Vorträge und Panel-Diskussionen diesen lange „vergessenen” Opfergruppen aus unterschiedlichen Perspektiven an: biographisch, künstlerisch, historisch vergleichend, diskursiv. Der Schwerpunkt der Reihe liegt dabei auf den Erfahrungen der Betroffenen und die Erinnerung an sie.
Folgende Fragen wollen wir stellen: Wieso spielen ausgerechnet die als „Asoziale” und „Berufsverbrecher” Verfolgten sowie die Opfer der NS-Krankenmorde eine so geringe Rolle in der deutschen Erinnerungskultur? Was sind die gemeinsamen Merkmale dieser Opfergruppen, wo gibt es Überlappungen, worin unterscheiden sie sich? Wie wirkten sich eingeübte Diskriminierungspraktiken auf die Verfolgung im Nationalsozialismus aus? Welche Mechanismen führten dazu, dass die Betroffenen nach 1945 keine Beachtung, ja in vielen Fällen noch weitere Ausgrenzung erfuhren? Welche Formen des Gedenkens und Erinnerns an eben jene Opfer haben sich seit 1945 entwickelt? Wer waren dabei die treibenden Kräfte und die Adressierten? Und wie kann eine angemessene Auseinandersetzung und Beschäftigung mit der Thematik in der Gegenwart gelingen?
Termine
26.10.2022
„Du hattest es besser als ich. Zwei Brüder im 20. Jahrhundert“
Buchvorstellung von Frank Prof Dr. Frank Nonnenmacher
29.11.2022
Die Verdrängten. Ein Gespräch über die Geschichte des Umgangs mit den NS-Krankenmorden
Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Michael von Cranach, Dr. Ulrich Baumann und Margret Hamm
31.01.2023
Lesung mit Robert Domes: „Waggon vierter Klasse: Eine Spurensuche in der Nachkriegszeit“
23.05.2023
Lesung mit Daniel Haberlah: „Als ‚Asoziale‘ nach Ravensbrück – Das kurze Leben der Irmgard Plättner“
24.05.2023
Lunchgespräch mit Daniel Haberlah
28.06.2023
Buchpräsentation mit Brigitte Halbmayr: „Brüchiges Schweigen“
Den NS-Krankenmord erinnern
Die Veranstaltungsreihe „Kontinuitäten der Ausgrenzung“ findet im Rahmen des Publikationsprojekts „Den NS-Krankenmord erinnern“ statt, das sich interdiszipinär und multiperspektivisch mit Geschichte und Gegenwart der Erinnerung an den NS-Krankenmord beschäftigt.